Weitere Urvögel

 

Protoavis. Archaeopteryx ist nicht der einzige heute bekannte Urvogel. Er lebte vor circa 150 Millionen Jahren zur Zeit des Oberjuras. Rund 75 Millionen Jahre älter soll ein anderer "Urvogel" sein, welcher von dem amerikanischen Paläontologen Sankar Chatterjee 1984 in obertriassischen Gesteinen der Dockum-Formation Texas gefunden wurde. Erst zwei Jahre später veröffentlichte Chatterjee seinen Fund in einer kurzen Zeitungsnotiz. Es handelt sich dabei um das nur fragmentarisch erhaltene Skelett eines kleinen, etwa krähengroßen Tieres.

Obwohl eine eingehende Analyse des vorliegenden Materials noch aussteht, wird behauptet, daß dieser Protoavis genannte Fund einen deutlich höheren Entwicklungsgrad in Richtung Vogel aufweist als Archaeopteryx. So soll der Schädel deutlich vogelähnlicher sein, das Brustbein bereits über eine Crista sterni verfügen und an den Unterarmknochen deutliche Ansatzstellen von Federkielen nachgewiesen worden sein. Eigentliche Federabdrücke wurden jedoch nicht entdeckt. Dennoch soll das Vorhandensein einer Furcula die Ansprache des Fundes als frühen Vogel rechtfertigen. Der Bau der Hinterextremitäten und des Beckens sowie der lange knöcherne Schwanz und die bezahnten Kiefer weisen nach Ansicht Chatterjees auf verwandtschaftliche Beziehungen zu frühen Thecodontiern hin. Somit würde die vermutete Abstammung der Vögel von den Dinosauriern recht unwahrscheinlich erscheinen und Archaeopteryx wäre in eine Sackgasse der Vogel-Evolution zu stellen.

Doch ganz so einfach stellt sich die Sache nun doch nicht dar! Angesichts der schlecht erhaltenen Überreste ist die anscheinend zweifelsfreie Zuordnung der Protoavis zu den Vögel recht fragwürdig. Es müssen sogar größere Zweifel an der Echtheit des Fundes angemeldet werden. Genährt werden diese Bedenken durch die Abbildungen, die Chatterjee seiner Fundmeldung beifügte (Abb.). Die eigentümliche Lage der fossilen Protoavis-Knochen im Gestein ähnelt in sehr starkem Maße einer anatomischen Lehrbuchabbildung, entspricht aber keineswegs der im fossilen Beleg zu erwartenden natürlichen Position von Vogelleichen.

 

Vogelfunde aus dem obersten Oberjura und der unteren Kreide. Sämtliche weitere Urvögel-Funde sind geologisch jünger als Archaeopteryx. Am nächsten kommen ihm die 1995 von dem chinesischen Paläontologen Hou Lian-hai in Seeablagerungen der Yixian-Formation der nordostchinesischen Provinz Liaoning entdeckten Überreste dreier Individuen der Art Confuciusornis sanctus. Von diesem etwa amselgroßen Urvogel, dessen Alter auf ca. 140 Millionen Jahre veranschlagt wird, sind leider nur der Schädel, das Flügel- und Beinskelett sowie die Beckenregion erhalten geblieben (Abb.). Einzelne Federeindrücke konnten am Unterschenkel nachgewiesen werden. Desweiteren sind isolierte Abdrücke von Vogelfedern gefunden wurden, die sicherlich Confuciusornis zugeordnet werden müssen.

Der Schädel von Confuciusornis ist mit ca. 5 cm Länge recht kurz und verfügt über große Augenhöhlen. Er wurde während der Fossilisation leider sehr stark deformiert, so daß eine sichere Interpretation einzelner Merkmale schwierig ist. Phylogenetisch interessant sind jedoch die Kiefer, welche möglicherweise bereits zahnlos waren und auf ihrer Oberfläche viele kleine Poren besitzen. Dies deutet darauf hin, daß die Kiefer von einem hornigen Schnabel (Rhamphotheca) umgeben waren. Damit war Confuciusornis der älteteste schnabeltragende Vogel und so bedeutend progressiver als Archaeopteryx oder einige andere, geologisch jüngere Urvögel. Im restlichen Skelett findet sich allerdings das Entwicklungsniveau von Archaeopteryx wieder: Im robusten Flügelskelett fällt neben einem an seinem oberen Ende ungewöhnlich breiten Humerus, eine dreifingrige, bekrallte Hand auf, deren Mittelhandknochen keinerlei Anzeichen einer Verwachsung zeigen. Ein halbmondförmiger Knochen in der Handwurzel des chinesischen Urvogels weist deutlich auf die phylogenetischen Beziehungen zu den Theropoden hin.

Das Archaeopteryx-ähnliche Beinskelett von Confuciusornis verfügt über einen dreizehigen Lauffuß, dessen drei mittleren Metatarsalia nur an ihrem Oberende verwachsen sind. Die Zehen enden in kräftigen, gekrümmten Krallen. Ein anderer bekrallter Zeh weist nach hinten. Vom fünften Zeh findet sich lediglich ein splintartiger Rest des Mittelfußknochens - genau wie bei Archaeopteryx und vielen Theropoden. Auch der Beckenbereich ist theropodenartig. Die Schambeine verlaufen schräg nach hinten und waren möglicherweise an ihrem unteren Ende nicht verwachsen.

Fossile Hinweise auf die Wirbelsäule, den Schultergürtel und das Brustbein von Confuciusornis fehlen leider. Möglicherweise war die Schwanzwirbelsäule noch nicht zu einem Pygostyl verkürzt, wie es dann erst bei den Unterkreidevögeln der Fall ist. In Anbetracht des an seinem Oberende stark verbreiterten Oberarmknochens und der damit erzielten großen Ansatzfläche für eine kräftige Flugmuskulatur muß wohl auch davon ausgegangen werden, daß Confuciusornis über ein entsprechend großes Brustbein verfügte. Da Archaeopteryx wie auch einige spätere Urvögel noch über Bauchrippen verfügten, kann dies auch bei Confuciusornis angenommen werden. Insgesamt jedoch läßt sich der nordostchinesische Urvogel mit seiner Mischung aus progressivem Schädelbau und primitivem übrigen Skelett zwischen Archaeopteryx und den Unterkreidevögeln einordnen.

Aus den etwas jüngeren unterkreidezeitlichen Seeablagerungen der Jiufutang-Formation der gleichen Gegend (Liaoning, Nordost-China) beschrieben Paul Sereno & Rao Chenggang im Jahre 1987 die Überreste eines nahezu sperlingsgroßen Vogels, welcher vor etwa 135 Millionen Jahren (Berrias bis Valangin) lebte. Der als Sinornis santensis beschriebene Urvogel ist somit circa 15 Millionen Jahre jünger als Archaeopteryx und nur etwa 5 Millionen Jahre jünger als Confuciusornis. Er zeigt ebenfalls eine Mischung aus primitiven und fortgeschrittenen Merkmalen, die ihn als eine weitere Übergangsform vom Reptil zum Vogel auszeichnen.

Als ursprüngliche Merkmale müssen die bezahnten Kiefer, die getrennten Mittelhandknochen und zwei krallenbewehrte Finger angesehen werden. Überdies erinnert auch hier wieder das durch lange nach unten gerichtete Schambeine geprägte Becken und das Vorhandensein von Bauchrippen sehr stark an die wahrscheinliche Abstammung der Vögel von den theropoden Dinosauriern. Im Gegensatz zu den modernen Vögeln fehlen dem Sinornis ebenso wie Archaeopteryx die den Brustkorb versteifenden Hakenfortsätze. Das fortgeschrittene Entwicklungstadium des chinesischen Urvogels drückt sich in der auf acht freie Wirbel reduzierten Schwanzwirbelsäule aus, die in einem großen Pygostyl endet. Dieses bildete den Ansatz für die Schwanzfedern, welche die Manövrierfähigkeit des Fliegers deutlich verbesserten.

Die Rumpfwirbelsäule des Sinornis ist gegenüber Archaeopteryx um zwei Wirbel verkürzt. Auf Grund des kürzeren Schwanzes verlagert sich der Körperschwerpunkt mehr nach vorn in Richtung Flügel und damit erreicht Sinornis die Verhältnisse rezenter Vögel. Der Bau des Schultergürtels läßt auf gute Flugeigenschaften schließen. Es wird vom Vorhandensein eines verknöcherten Brustbeines ausgegangen, welches dem Ansatz einer kräftigen Flugmuskulatur diente.

In der Armstruktur vermittelt Sinornis zwischen Archaeopteryx und den heutigen Vögeln. Besonders die federtragenden Elemente, die Elle, der dritte Mittelhandknochen und die Finger, sind recht robust ausgebildet und ermöglichten eine bessere Kraftübertragung zwischen Körper und Flügel als bei Archaeopteryx. Es wird daher insgesamt davon ausgegangen, daß Sinornis zum aktiven Schlagflug und damit auch zum Auffliegen vom Boden befähigt war.

Im Fußskelett des chinesischen Unterkreidevogels fällt die rückwärts gerichtete erste Zehe auf, welche mit den anderen drei Zehen einen gut funktionierenden Klammerfuß bildete. Die Struktur der zum Astsitzen geigneten Zehen inclusive der Krallen deuten auf einen baumbewohnenden Vogel hin. Es kann daher der Schluß gezogen werden, daß die weitere Evolution der Vögel eng an Waldbiotope gebunden war.

Noch jüngere Funde von Vögeln sind aus dem hohem Neokom (Hauterive bis tiefes Barreme) der Mongolei (Ambiortus dementjevi) sowie Spaniens (Iberomesornis romeralis, sogenannte Las Hoyas-Vögel) beschrieben worden (Sanz, Bonaparte & Lacasa, 1988; Cracraft, 1988). Sie sind etwa 25 Millionen Jahre jünger als Archaeopteryx, verfügen jedoch ebenfalls noch über eine Kombination urtümlicher und abgeleiteter Merkmale (z.B. Pygostyl, verknöchertes Sternum, Klammerfuß, reptilartiges Becken) und vermitteln so zwischen Archaeopteryx und den späteren Vögeln. Die nach Archaeopteryx in der Vogel-Evolution einsetzenden morphologischen Abwandlungen wurden eindeutig durch die Erfordernisse des Fliegens bestimmt. Sie betreffen insbesondere Flügel sowie Schulter- und Brustapparat, welche durch die einsetzende Windselektion optimiert wurden, wogegen die Beckenregion und die Hinterbeine zunächst noch recht konservativ blieben.

Während der Kreidezeit breiteten sich die Vögel rasch weltweit aus, wie die fossilen Überreste vieler Fundstellen in Europa, Asien, Afrika, Amerika und Australien zeigen. Bekannt wurden dabei insbesondere die gut erhaltenen und recht vollstängigen Skelettfunde aus den Niobraraschichten (obere Kreide, Coniac) von West-Kansas. Sie wurden erstmals im Jahre 1880 von Othniel Charles Marsh beschrieben. Die Überreste gehören zwei Typen zahntragender Vögel (Odontornithes - Zahnvögel) an: die flugfähigen an Möwen erinnernden Vertreter der Gruppe der Ichthyornithiformes, welche die Küsten des damaligen Niobrara-Meeres in großen Scharen bevölkerten, Ichthyornis und Apatornis, sowie die flugunfähigen Tauchvögel der Gruppe der Hesperornithiformes, Hesperornis und Baptornis. Diese und andere Funde zeigen, daß die Vögel recht schnell in verschiedene Lebensräume eingedrungen sind und es verstanden haben, sich den neuen Bedingungen hervorragend anzupassen. Die erste große Entfaltung der Vögel erfolgte jedoch erst im frühen Tertiär, vor ca. 50 Millionen Jahren.

 

Mononykus. Kürzlich beschrieb eine mongolisch-amerikanische Forschergruppe, bestehend aus Altangerel Perle, Mark A. Norell, Luis M. Chiappe & James M. Clark, aus den Ablagerungen der höchsten Oberkreide der Wüste Gobi zwei Skelettreste eines flugunfähigen Laufvogels, welcher angeblich näher mit den modernen Vögeln verwandt sei als sämtliche früher gefundene Urvögel. Der als Mononykus olecranus bezeichnete Fund soll demnach fünf vogeltypische Merkmale aufweisen, die seine nähere Vogelverwandtschaft belegen: ein gekieltes Brustbein, eine Knochenwulst hinter der Hüpftpfanne des Beckens, ein reduziertes Wadenbein, einen zahnlosen Oberkiefer und schließlich einen nur am unteren Ende entwickelten dritten Mittelfußknochen.

Wie Peter Wellnhofer (1994) eindeutig darlegt, finden sich derartige Merkmale bereits bei vielen Dinosauriern wieder, die dabei nicht zugleich als direkte Vogel-Ahnen betrachtet werden. So besitzt beispielsweise der kleine Coelurosaurier Oviraptor ein gekieltes, wenngleich etwas anders geformtes Sternum. Darüber hinaus verfügt er aber noch über ein wirklich vogeltypisches Merkmal, eine Furcula, das sich bei Archaeopteryx und allen anderen Kreide-Vögeln findet, bei Mononykus jedoch nicht nachgewiesen werden konnte. Oviraptor und eine Reihe anderer Theropoden, wie Gallimimus und Struthiomimus, sind darüberhinaus im Oberkiefer ebenfalls zahnlos. Wellnhofer kommt zu dem Schluß, daß es sich bei Mononykus keineswegs um einen Laufvogel handelt, sondern eher um einen vogelähnlichen Coelurosaurier, der mit den heutigen Vögeln nicht näher verwandt ist als sämtliche andere Theropoden mit vogelartigen Merkmalen (Ornithomimiden, Coeluriden, Saurornithoiden und Oviraptoriden).

 

Nicht alle Dinosaurier sind am Ende der Kreidezeit ausgestorben. Mit den über 8 600 bekannten Arten rezenter Vögel gelang es der Linie der Theropoden bis in unsere Zeit zu überdauern, wenn sie auch ihre dominierende Stellung unter den Landwirbeltieren an die Säugetiere verloren hatten. "Wenn der Ruf der Schneegänse nordwärts tönt, können wir sagen: ,Die Dinosaurier ziehen, es wird Frühling!’" (Bakker, 1986). Abschließend muß die letzte große Frage dieses Buches gestellt werden: Warum starben die meisten Dinosaurier am Ende des Mesozoikums aus?