Graduelles Aussterben

 

Die Theorie des graduellen Aussterbens beruht auf der Annahme eines allmählichen Niedergangs der betroffenen Organismengruppen über eine recht lange Zeitspanne von vielleicht 10 Millionen Jahren. In dieser Zeit vollzogen sich weitreichende klimatische Veränderungen. Es wird im allgemeinen davon ausgegangen, daß während des Mesozoikums recht warme und ausgeglichene Bedingungen vorherrschten. Die Pole trugen keine Eiskappen, Jahreszeiten waren so gut wie unbekannt. Selbst in höheren geographischen Breiten bestanden subtropische Klimaverhältnisse. Diese überaus günstigen Lebensbedingungen führten zur Entfaltung einer ungeheuer reichen Tier- und Pflanzenwelt in sämtlichen Lebensräumen.

Im Zuge der kontinentalen Drift veränderte sich gegen Ende der Kreide allmählich das Bild der Erde. Die Kontinente nahmen nach und nach ihre heutige Position ein. Diese geographischen Veränderungen beeinflußten entschieden das Klima des ausgehenden Mesozoikums. Jahreszeiten bildeten sich heraus, die durchschnittlichen Temperaturen fielen von +23 °C auf +16 °C (Kemper, 1987). Der klimatische Wandel läßt sich anhand paläobotanischer Untersuchungen belegen. In der Folge kälterer Winter wurden schrittweise viele frühere subtropische Floren vernichtet und durch temperierte Waldbestände ersetzt (van Valen & Sloan, 1977). Die Dinosaurier und viele andere, optimal an das stabile warme Klima des Mesozoikums angepaßten Tiere kamen mit den neuen Bedingungen nicht mehr zurecht, gingen allmählich in ihrer Zahl und Artenvielfalt zurück, um dann am Ende der Kreide oder zu Beginn des Tertiärs endgültig von der Bühne des Lebens zu verschwinden.

Die dem Aussterben vorangehende schrittweise Abnahme der Vielfalt der Dinosaurier müßte sich im fossilen Beleg nachweisen lassen, falls die aufgestellte Theorie eines graduellen Niederganges der Wirklichkeit entsprechen sollte. Nach Robert E. Sloan, J. Keith Rigby, Leigh M. van Valen & Diane Gabriel (1986) deuten quantitative Analysen der Fossilreste der Hell Creek Formation im Nordwesten Montanas auf einen allmählichen Rückgang der Dinosaurier in den letzten 5 bis 7 Millionen Jahren der Oberkreide hin. Die Grenze Kreide/Tertiär wird in diesen Schichten durch einen Kohlenhorizont markiert. Verstreute Überreste verschiedener Dinosaurier (u.a. Zähne von Theropoden, Triceratops) finden sich oberhalb dieser Grenze und beweisen nach Ansicht von Sloan und seinen Mitarbeitern ein Überdauern einzelner Schreckensechsen bis in die Erdneuzeit.

Ein weiteres Vorkommen von Dinosaurier-Überresten (u.a. Parasaurolophus, Kritosaurus, Pentaceratops, Alamosaurus, Deinonychosaurier) ist aus dem frühen Paläozän der oberen Ojo Alamo Sandstone des San Juan Basin New Mexicos bekannt (Lehmann, 1981; Fassett, Lucas & O'Neill, 1987). Damit zog sich das Aussterben der Dinosaurier über einen längeren Zeitraum hin, beginnend mit einem zunehmenden Rückgang im Maastricht, welcher sich in den letzten 300 000 Jahren des Mesozoikums erheblich beschleunigte und etwa in den ersten 20 000 bis 80 000 Jahren des neuen Zeitalters mit dem definitiven stammesgeschichtlichen "Aus" dieser Tiergruppe ein Ende fand.

Wenn ein Aussterbeprozeß in einem derartig langsamen Tempo voranschreitet, werden nach und nach ökologische Nischen frei, die von anderen überlebenden Arten im gleichem Maße wieder gefüllt werden. Mit dem zunehmenden Ausbleiben der Dinosaurier hätten sich also parallel dazu die Säugetiere immer stärker entfalten müssen. Sloan und seine Mitarbeiter verzeichnen in den Gesteinen der Hell Creek Formation ein dementsprechendes Aufblühen der sogenannten Protungulatum-Fauna (Stammhuftiere). Dennoch blieben die Säuger dieser Zeit noch verhältnismäßig klein und besaßen wohl kaum größere Bedeutung. Ihre eigentliche Entfaltung setzte erst später, circa 250 000 Jahre nach dem endgültigen Verschwinden der Dinosaurier ein (Archibald, 1981, 1987). Diese doch recht beachtliche Zeitspanne verlangt nach einer Erklärung, deutet sie doch viel eher auf ein plötzliches Aussterben als auf einen allmählichen Vorgang hin.

Aber die Theorie vom graduellen Untergang der Schreckensechsen weist noch einige andere Probleme auf. Die Dinosaurier gingen dabei infolge sich verschlechternder Klimabedingungen, insbesondere durch die Herausbildung kühlerer Jahreszeiten, zu Grunde. Sicher waren einige Formen der Schreckensechsen an recht warme, möglichst gleichbleibende klimatische Verhältnisse gebunden und reagierten auf eine derartige Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen sehr empfindlich. Ferner häufen sich jedoch die Hinweise, daß recht viele Dinosaurier auch unter kühleren Klimaten existieren konnten. Überreste von Hadrosauriern (Edmontosaurus), Ceratopiern (Pachyrhinosaurus), Tyrannosauriden und Deinonychosauriern (Troodon) konnten 1985 in der Oberkreide Nordalaskas entdeckt werden (Brouwers et al., 1987). Pflanzenreste dieses Gebietes lassen auf sommerliche Durchschnittstemperaturen von 10 bis 12 °C schließen; im Winter herrschten wohl 2 bis 4 °C vor. Es ist unwahrscheinlich, daß die vorgefundenen Dinosaurierformen das ganze Jahr über in diesen Gebieten lebten. Vielmehr muß von jahreszeitlichen Wanderungen ausgegangen werden, die die Tiere im Sommer in diese Regionen führten. Dennoch bezeugen diese Funde die Anpassungsfähigkeit der Dinosaurier an ein eher kühleres gemäßigtes Klima.

Ähnliche Belege sind auch aus der Unterkreide Südostaustraliens ("Dinosaur Cove") bekannt. Zu dieser Zeit bildete Australien den südlichsten Zipfel des auseinanderbrechenden Gondwanalandes. Es lag zu einem großen Teil innerhalb des Südpolarkreises. Die damalige Pflanzenwelt dieses Gebietes läßt auf mittlere Jahrestemperaturen von 10 °C schließen. Untersuchungen des Verhältnisses der im Gestein enthaltenen Sauerstoffisotope 16O und 18O lassen sogar Temperaturen um den Gefrierpunkt bis 8 °C wahrscheinlich werden (Vickers-Rich & Rich, 1993), und dennoch konnte garade hier eine Vielzahl unterschiedlichster Dinosaurier-Formen nachgewiesen werden (u.a. Leaellynasaura, Muttaburrasaurus, Allosaurus, Ankylosaurier, Coelurosaurier).

Im Gegensatz zu der anderen polaren Fundstelle in Alaska war es den im Südosten Australiens ansässigen Schreckensechsen jedoch nicht ohne weiteres möglich, in wärmere Gefilde zu ziehen, da ein großes Binnenmeer ihnen den direkten Weg nach Norden versperrte. Die Tiere hätten das Gewässer lediglich umwandern können und damit einen Umweg von einigen hunderten Kilometern westwärts auf sich nehmen müssen. So ist es durchaus denkbar, daß die in Australiens Dinosaur Cove gefundenen Dinosaurier ortständig waren - eine Annahme, die durch weitere Indizien gestützt wird. So läßt die Entdeckung von Jungtieren des Raubdinosauriers Allosaurus darauf schließen, daß dieser während der Polarsommer hier seinen Nachwuchs aufzog. Eierschalen wurden allerdings bislang noch nicht gefunden.

Interessanterweise erreicht der unterkreidezeitliche Polar-Allosaurus im krassen Gegensatz zu seinen Verwandten aus dem oberen Jura Nordamerikas und Afrikas kaum mehr als Mannsgröße. Wie Patricia Vickers-Rich & Thomas Hewitt Rich (1993) vermuten, gab es in diesem polaren Lebensraum einen evolutiven Trend zu kleineren Körpergrößen. Diese "Dominanz der Kleinen" widerspricht jedoch der von dem deutschen Zoologen Carl Bergmann aufgestellten Größenregel, wonach verwandte Arten oder Rassen homoiothermer Tiere im allgemeinen dazu neigen, in kälteren Klimaten größer und kompakter zu werden. Auf Grund eines günstigeren Oberflächen-Volumen-Verhältnisses halten die Tiere damit ihre Wärmeverluste geringer. Dabei muß aber auch die Ausdehnung des Gebietes berücksichtigt werden. So sind auf Inseln lebende Individuen häufig kleiner als ihre Verwandten auf dem Festland. Eine Population kleinwüchsiger Formen ist in einem abgeschlossenen Gebiet mit begrenzten Ressourcen im Vorteil, da eine größere Anzahl von Individuen existieren können als von einer großwüchsigen Form und somit ein ausreichend vielfältiger Genbestand erhalten bleibt. Der Südosten Australiens muß zur Zeit der Unterkreide als eine derartige Enklave betrachtet werden. Die hier ansässigen Dinosaurier waren gewissermaßen "am Ende der Welt" gefangen und mußten mit den an diesem Ort herrschenden kühleren bis kalten Umweltbedingungen leben.

Nach E. Kemper (1987) muß sogar die Annahme eines weithin warmen und ausgeglichenen Klimas während des Mesozoikums in Zweifel gezogen werden, da diese auf der Verallgemeinerung einseitiger Daten beruht. Gerade während des Jura und der Kreide unterlag das Klima erheblichen Schwankungen. Es liegen Hinweise für Kaltzeiten vor, die denen des Quartärs durchaus vergleichbar waren, jedoch bedeutend länger, bis zu 2 Millionen Jahren, dauerten. Zwischen den Kaltzeiten lagen Warmzeiten von bis zu 10 Millionen Jahren Dauer, welche mit höheren Temperaturen verbunden waren. In diesen Zeiten besaß der Tropengürtel gegenüber heute etwa die doppelte Breite. Die relativ einheitliche Flora ermöglichte eine weite Ausbreitung der terrestrischen Tierwelt. Die Pole waren frostfrei, Zonen kalten Polarklimas fehlten. Die von Kemper angegebenen Warmzeiten der Kreide (im Berrias, vom Hauterive bis zum unteren Apt, im mittleren und oberen Apt, im Cenoman, im Campan und im Maastricht) korrespondieren mit reichhaltigen und weit verbreiteten Dinosaurierfaunen, während in den Kaltzeiten oder in Phasen häufigerer klimatischer Veränderungen deutliche Überlieferungslücken zutage treten. Dennoch führte keine dieser Klimaschwankungen zu einschneidenden Ereignissen in der Entwicklung der Landwirbeltiere, insbesondere der der Dinosaurier. Diese konnten sich offensichtlich hervorragend an verschiedene und wechselnde Klimate anpassen, so daß ein Klimawandel an der Kreide/Tertiär-Grenze kaum für ihr Aussterben verantwortlich gemacht werden kann.

Die Erklärung des Niederganges der Dinosaurier infolge eines Klimawechsels am Ende des Mesozoikums berücksichtigt weiterhin die überaus wahrscheinliche Existenz kleiner befiederter, endothermer Theropoden nicht, denen ein allmählicher Temperatursturz sicherlich keine größeren Probleme bereitet hätte. Einige Formen, wie beispielsweise Troodon, hätten eventuell sogar vom Rückgang größerer Raubtiere profitiert. Sie hatten sich eine andere Nahrungsbasis erschlossen, stellten den kleinen Säugern nach, deren nun einsetzende, zunehmende Entfaltung auch für sie entscheidende Vorteile gebracht hätte.

Als wichtigster Beleg für die Theorie eines graduellen Niederganges der Dinosaurier müssen die von Sloan und seinen Mitarbeitern (1986) vorgelegten Ergebnisse der quantitativen Analyse der Fossilreste der Hell Creek Formation Montanas angesehen werden, die von einem zunehmenden Rückgang der Arten- und Individuenzahl der Schreckensechsen und gleichzeitigem Aufblühen der Säugetiere während der letzten 5 bis 7 Millionen Jahre des Mesozoikums sprechen. Auf die Abnahme der Vielfalt der Dinosaurier in den nordamerikanischen Ablagerungen der höchsten Kreide wies bereits 1982 Dale A. Russel hin. Nach seiner Ansicht ist dieser Rückgang jedoch nur scheinbar und beruht aller Wahrscheinlichkeit nach auf ungenügenden Überlieferungen in den jüngsten mesozoischen Dinosaurier-Gesellschaften. Russel richtet seinen Blick auch auf andere Regionen der Erde: in Europa blieb die Vielfalt der Dinosaurier erhalten, in der Mongolei nahm sie sogar zu.

Auch das Aufblühen der Protungulatum-Fauna kann nicht kritikfrei akzeptiert werden. Jan Smit & V.D. Kaas (1987) erforschten eingehend die Entstehungsgeschichte der Sedimente der Hell Creek Formation. Dabei unterschieden sie die endkreidezeitlichen Ablagerungen einer ehemaligen Flutebene von den weitaus jüngeren Sandschichten eines früheren Flußbettes. Überreste von Dinosauriern konnten lediglich in den Sedimenten der Flutebene nachgewiesen werden, wogegen sich sämtliche Säugerreste ausschließlich im Flußsand des einstigen Flußbettes befanden. Der Fluß selbst hatte sich in die ältere Flutebene mit den Knochen der Schreckensechsen eingefressen und so gelangten die Fossilen der Säugetiere in den gleichen Fundhorizont. Dies wiederum läßt den Schluß zu, daß die Dinosaurier bereits ausgestorben waren, bevor sich in Montana die Protungulatum-Fauna herausbilden konnte.